Mit der MS Otto Sverdrup von Hamburg zum Nordkap
von Reinhard Helle, Hamburg den 06.02.2022
"Det kommer sommer og det kommer vinter, hva er hastverk godt for?"
"Der Sommer kommt und der Winter kommt. Wozu ist dann die Eile gut?"
Norwegisches Sprichwort
Das Zeitalter des Coronavirus und das Reisen
Als wir noch jung waren und auf den Sommerwiesen unserer Kindheit einen Blick in die Zukunft erheischen wollten, da nahmen wir - beispielsweise - ein Gänseblümchen und pflückten Blatt für Blatt nacheinander aus, um dem Schicksal auf die Schliche zu kommen: "Sie liebt mich, sie liebt mich nicht, sie liebt mich, sie liebt mich nicht..."! Das letzte Blütenblatt verhieß die Wahrheit, stellte den Besitz der doch eigentlich unmöglich zu kennenden Zukunft in Aussicht... Wer erinnert sich nicht?
Natürlich war der romantische Versuch schon damals eine Illusion, ein naiver Zug, des eigenen Schicksals habhaft zu werden. Doch es blieb - zu allen Zeiten - eine 50:50-Chance. Das Schicksal lässt sich nicht vorhersagen... So ist es auch in diesen Tagen noch immer wie damals: Will man heute - zu Coronazeiten - eine Reise machen, wünscht man sich - angesichts unvorhersehbarer Wechsel von Virusvarianten und abrupten Wendungen von Inzidenzkurven oder Reproduktionswerten - diesen wissenden Blick in die Zukunft und ein Gänseblümchen zur Hand: „Die Reise findet statt.“ … „Die Reise findet nicht statt.“ … „Die Reise findet statt.“ … „Die Reise findet nicht statt.“ … „Die Reise …"
Wenigstens kann man sich heute - anders als bei der Liebe damals - gegen den Ausfall einer Reise versichern... Aber soweit sind wir nicht!
Es war gerade gut ein Jahr her, dass wir auf der hiesigen Seite der Spurenwechsler über unseren - Corona sei Dank - gescheiterten Versuch einer Reise nach China berichtet hatten, als wir im Sommer des Jahres 2021 mal wieder einen sonnigen Tag im Hamburger Hafen verbrachten. Die Corona-Inzidenzzahlen lagen damals stabil im einstelligen Bereich - "gefühlt" lag das Schlimmste der Pandemie bereits hinter uns und neue Reisepläne machten sich in uns breit... Der Begriff Hospitalisierungsrate gehörte noch nicht zu unserem täglichen Corona-Vokabular und den Begriff Omikron kannten höchstens ein paar Philologen vom Studium altgriechischer Texte her... Angesichts all der Schiffe im Hafen und unseres alten Traums von einer Reise in den hohen Norden, zum nördlichsten Punkt des europäischen Festlands, wagten wir im Juli 2021 einen neuen Versuch: Wir fassten den Entschluss und buchten uns auf der MS Otto Sverdrup ein, die Anfang Januar des Jahres 2022 - mitten im Winter - in den Norden Norwegens aufbrechen sollte. Eine Reise also auf einem der kombinierten Fracht-, Passagier- und Kreuzfahrtschiffe der Hurtigruten, das von Hamburg aufbrechend, die Küste Norwegens entlang, ihre Fjorde durchstreifend, das Nordkap zum Ziel hat. Abenteuergeist entfachte in uns... In unserer Vorstellung blickten wir bei knackiger Kälte in wundervolle Polarlichter des Nordens, jene Aurora Borealis genannten Lichterscheinungen und ergötzten uns an den atemberaubend schwirrenden Lichtern am Himmel...
"Aahhhh!", werden Sie denken: "Wieder mal welche von der Sorte "Kreuzfahrt-Liebhaber", die nichts mehr lieben als den Luxus an Bord eines Mega-Schiffes, um ja nicht Gefahr zu laufen, bereiste Länder wirklich kennenlernen zu müssen...!" Aber so ist es nicht! Wir haben in Gesprächen mit Freunden und Bekannten immer wieder festgestellt: Entweder mag man Kreuzfahrten oder man mag sie nicht - da gibt es eigentlich nur "schwarz oder weiß.“ Grautöne sind da eher selten. Nachdem wir in den letzten Jahren im Hamburger Hafen zahlreiche der Riesenkreuzfahrtschiffe gesehen haben, eher klobige „Riesen“ als elegante „Schiffe“, stinkende Hochhauskomplexe auf dem Meer, zählen wir uns zu jenen, die eine Kreuzfahrt eigentlich für sich ausgeschlossen haben. Eines hat uns allerdings schon immer gereizt: Die Mitfahrt auf einem Containerschiff, einem Frachtschiff, auf dem der Gast eher ein staunender Mitreisender und weniger ein zentrales Verwöhnobjekt der Luxus- und Spaßgesellschaft ist. Unter den Corona-Rahmenbedingungen sind diese Möglichkeiten allerdings leider bis auf weiteres fast vollständig zum Erliegen gekommen. Alternativen mussten her! Grautöne...!
Als Hurtigruten im Sommer 2021 darüber informierte, dass eines ihrer Schiffe regelmäßig von Hamburg zum Nordkap (und natürlich auch wieder zurück) fährt, da waren wir plötzlich doch neugierig und interessiert, stehen doch die Hurtigruten-Schiffe (Hurtigruten = norwegisch für „die schnelle Route“) für die traditionelle Postschifffahrt, die seit 1893 die Orte der über 2700 Kilometer langen norwegischen Westküste traditionell miteinander verbunden hat. Auch wenn der Postverkehr seit 1984 eingestellt wurde, trafen wir für uns die Entscheidung diese Reise zum Nordkap antreten zu wollen. Der Ausgangspunkt der Reise, Hamburg, hat für uns jedenfalls schon mal einen großen Vorteil: Die Anreise zum Schiff kann mit dem ÖPNV erfolgen (S-Bahn und Hafenfähre). Wir werden sehen, ob diese Entscheidung die Richtige war...
Der nächsten Abfahrt der MS Otto Sverdrup am 24.08.2021 haben wir am Kreuzfahrtterminal in Hamburg Altona schon mit viel Vorfreude beigewohnt. Abendsonne und sommerliche Temperaturen bildeten einen farbenfrohen Hintergrund und den schönen Rahmen für erste Fotos von "unserem Schiff". Unsere Freude auf die Fahrt stieg jetzt ins Unermessliche, richtiges Reisen lag ja nun schon lang zurück und die Sehnsucht auf ein neues Abenteuer reifte in uns... Dann allerdings - Sie ahnen es schon - stiegen die Inzidenzzahlen in Deutschland im Herbst wieder an. Auch wenn in Hamburg die Zahlen zunächst noch moderat stiegen, kamen böse Erinnerungen an unseren geplatzten Chinatrip 2020 wieder hoch: Corona wird doch nicht schon wieder...?
Leider aber doch: Omikron rast seither durch das Land und sucht vor allem auch unser Hamburg heim. In den Wochen des Jahreswechsels bis kurz vor unserem geplanten Abfahrtstermin Anfang Januar stiegen die Werte in Hamburg täglich besorgniserregend an und liegen noch heute weit über dem Bundesdurchschnitt. Phasenweise führte Hamburg alle Rankings an... Ein Déjà-vu überkam uns nach dem anderen - das hatten wir doch alles schon einmal...
Mit den Inzidenzen stieg zugleich unser Sorgenpegel besorgniserregend an... Alarmiert und neugierig pilgerten wir kurz nach Weihnachten 2021 interessiert zum Hamburger Hafen. Ob es wohl ablegt, unser Schiff, dass am Dienstag, den 27.12.2021 plangemäß wieder von Altona zum Nordkap aufbrechen sollte? Es ist die letzte Fahrt der MS Otto Sverdrup vor unserer eigenen Tour... Sollte das Wetter ein Omen sein, wäre es wohl nicht gefahren: Es ist Hamburger Schietwetter. Regnerisch, diesig, nasskalt. Aber siehe da: Das Schiff legt pünktlich vom Kreuzfahrtterminal ab und die Fahrt zum Nordkap findet statt - allen Unkenrufen zum Trotz. "Das wird schon klappen!", denken wir in Bezug auf die eigene Reise und beruhigen uns selbst. Noch zwei Wochen bis zu unserem Start - doch die Einschläge kommen näher...
Ca. eine Woche vor unserem Reiseantritt häufen sich die Meldungen in der Presse und im Internet: „Kreuzfahrt abgesagt“ … „Kreuzfahrt in Dubai beendet“ … „Passagiere des Kreuzfahrtschiffes mit dem Flugzeug nach Hamburg zurückgebracht“. Freunde und Bekannte löcherten uns mit Fragen nach unserer geplanten Reise, die wir selbst natürlich auch nicht beantworten konnten - und ich wette: Wir hatten selbst doppelt so viele Fragen! Bis dahin jedenfalls verordneten wir uns äußerliche Coolness: "Betroffen sind ja nur die großen und ganz großen Kreuzfahrtschiffe mit jeweils mehreren tausend Passagieren! Die Hurtigrutenschiffe...", so beteuerten wir lässig, "...befördern ja jeweils nur 500 – 550 Passagiere. In Coronazeiten werden nur ca. 60 – 65 % dieser Schiffskapazitäten belegt...! Also: Wird schon schiefgehen!" Doch die Worte waren kaum verhallt, als uns eine Agenturmeldung am 05. Januar dieses Jahres leicht gefrieren ließ: „Von Corona-Ausbrüchen bleiben nun auch Hurtigruten-Kreuzfahrten nicht verschont..." Das darf doch nicht wahr sein...! Doch wir haben (noch) Glück: Es ist nicht „unser“ Schiff betroffen! Die MS Roald Amundsen und die MS Maud, zwei Schiffe aus der Hurtigruten-Flotte, sind es, die ihre Fahrten coronabedingt unterbrechen müssen. Aber: Stehen bald auch alle anderen Schiffe still? Es ist zu befürchten...
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk Norsk rikskringkasting in Norwegen informiert noch am gleichen Tag, das auf den Hurtigruten-Schiffen nun zusätzliche Sicherheits- und Hygienemaßnahmen umgesetzt werden sollen. "Hurtigruten möchte die Expeditionskreuzfahrten wie geplant fortsetzten“, heißt es. Wir pusten durch... Die Anspannung ist nun doch zu spüren, der gestiegene Adrenalinspiegel zeugt davon, dass es mit der Lockerheit nicht mehr allzu weit her ist... Was machen wir eigentlich, wenn die Reise nun doch noch kurzfristig abgesagt wird oder einer von uns beiden positiv getestet werden sollte? Die Wahrscheinlichkeiten steigen, aber einen Plan B haben wir nicht. Und da es schon das zweite Mal nach der gescheiterten Chinareise wäre, würde es uns wohl vor allem mental hart treffen...
Schon seit Beginn der Omikron-Welle - vermehrt in den letzten Wochen vor Reisebeginn - nahm auch die Zahl der Mails und die Informationen über die Webseite der Hurtigruten fast genau in dem Tempo und Umfang zu, wie die Inzidenzzahlen stiegen. Längst waren wir auf einen wahren Hürdenlauf an Corona-Vorsichtsmaßnahmen und Regelungen eingestellt: Impfungen, ein negativer PCR-Test innerhalb der letzten 48 Stunden vor Reiseantritt, eine zweiseitige gesundheitliche Selbstauskunft, ein negativer Schnelltest und Temperaturmessung unmittelbar vor Betreten des Schiffes waren die Bedingungen der aktuellen Reisevoraussetzungen. Außerdem müssen sich alle Gäste in einem Zeitraum von 72 Stunden vor dem Anlanden im ersten norwegischen Hafen (Stavanger) online registrieren. Dies muss übrigens auf der Rückfahrt „andersherum“ auch in Deutschland erfolgen. Wer um Himmels Willen wertet diese Masse an digitalen Daten eigentlich aus? Amtshilfe durch NSA, BND oder norwegischem Geheimdienst?
Sei es drum! Wir waren inzwischen so fokussiert, dass die MS Otto Sverdrup nun auch wirklich fahren möge, dass wir den ganzen Corona-Wahnsinn beinahe klaglos über uns ergehen ließen... Als wir nun am 11. Januar 2022 im Hamburger Hafen eintreffen, liegt vor uns das Schiff unserer Träume: Die MS Otto Sverdrup! Da liegt sie also vor uns, als gäbe es Corona nicht... Und: Sie ist nicht versiegelt...!
Wir checken nun tatsächlich ein, sind an Bord und legen jetzt - Corona hin, Omikron her - im schönsten Sonnenuntergang tatsächlich ab... Wir sind ein wenig spät dran, aber die Verspätung spielt nun wahrhaft keine Rolle mehr, angesichts dieses Szenarios im Hamburger Hafen...
Wir stechen in See und schlagen Omikron ein Schnippchen...
Was uns wohl erwartet?
Lest es nach!
Verlinkt Euch hier zum Teil 2 unserer Reise zum Nordkap!
Unsere Literaturempfehlungen
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Links zur Reisevorbereitung:
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11 wichtige Begriffe (deutsch – norwegisch)
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Dieser Beitrag gibt die subjektive Sicht von Reinhard Helle wieder. Er verantwortet als Autor die Inhalte wie die Bilder. Alle in diesem Bericht genannten Literaturhinweise sind darüber hinaus die persönlichen, also subjektiven Empfehlungen von Reinhard Helle und stehen nicht mit Werbehonoraren o. ä. in Verbindung. Des Weiteren ist jegliche vermeintliche Werbung in diesem Beitrag unbezahlt und keineswegs kommerziell intendiert.
Spurenwechsler danken Reinhard Helle für den Beitrag!
Natürlich freut sich Reinhard Helle über Fragen, Kommentare und Rückmeldungen, die wir ihm gern weiterleiten...